Panik überfällt mich, ich starre in den Spiegel und versuche krampfhaft, mich an einen Namen zu erinnern. Nichts.
Schon wieder Schweißausbruch. Mein Hirn scheint ein tiefer schwarzer Brunnen, in den ich hinabblicke, ahne, dass dort unten etwas sein muss. Aber ich kann nichts erkennen. Gar nichts. „Wer bist du?!“, brülle ich den Menschen im Spiegel an. „Und wer ist der da?!“
WAS IMMER DU TUST. VERTRAU KEINEM !!
Und dort steht in kleinen gefährlichen Lettern:
Mir ist klar: ich befinde mich auf einem Schiff. Und die Tatsache, dass ich das auch unmittelbar begriffen habe, scheint darauf hinzuweisen, dass ich mir das auch nicht unbekannt ist. Ich scheine nicht das erste Mal in meinem Leben auf einem Schiff zu sein. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich mit dieser Tatsache umgehe, legt es nahe. Das trägt aber nicht dazu bei, mich zu beruhigen. Warum kenne ich das? Bin ich Seefahrer?
Verdammt; ich muss herauskriegen, wer ich bin. Oder was ich bin. Irgendein Anhaltspunkt. Etwas sagt mir: Wenn ich erst einen vernünftigen und klaren Hinweis erhalte, wie das hier alles zusammenhängt, warum ich hier bin oder so etwas, dann wird der Rest des Rätsels schnell zu lösen sein. Wenn ich es schaffe, nur eine kleine Ecke des dunklen Geheimnisses zu lüften und ans Licht zu zerren, dann wird sich sicher alles schnell auflösen. Aber dazu muss ich irgendeinen vernünftigen Anhaltspunkt erhalten. Irgendetwas!
Ein entsetzlicher Schlag lässt mich zusammenfahren. Aber es war wieder nur eine Welle, die gegen die Bordwand schlug. Offensichtlich haben wir sehr starken Seegang und es tobt ein ordentlicher Sturm da draußen. Das ist klar.
Ich muss hier raus.
Zitternd raffe ich mich auf. Meine Beine sind wie Butter. Ich versuche, mich irgendwie zu beruhigen. Atme eine Sekunde ein und vier Sekunden aus. Atemtechnik. Woher kenne ich das? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es hilft.
Ich greife nach dem Handtuch, das neben dem Waschbecken hängt, und reinige erneut mein blutbeschmiertes Gesicht und meine Brust. Noch einmal sehe ich ungläubig in den Spiegel. Das darf alles nicht wahr sein. Amnesie. Man hört immer in irgendwelchen Krimis, aber…
»Crime-Cruise? Keine Ahnung.«
Ich sehe mich um, entdecke aber nichts zum Anziehen. Egal. Vor dem da draußen brauchst du dich nicht mehr zu schämen oder zu fürchten.
Leicht gesagt. Oh Mann.
Ich wende mich zu der Tür, sehe, wie meine eine Hand den Drehknauf umfasst, während die andere zum Riegel greift. Mein Innerstes bebt, in diesem Moment frage ich mich: bin ich Links- oder Rechtshänder.
Ich weiß es nicht. Aber ist das jetzt wichtig?!
Ich entriegele vorsichtig die Tür und drehe ganz langsam den Türknauf nach links. Plötzlich…
Scheiße!
Mann! Das ist doch alles eine einzige Scheiße!
Reiß dich zusammen!
Ich nehme all meinen Mut zusammen, gehe erneut zur Tür und umfasse entschlossen den Türknauf und drehe ihn herum. Komisch; diesmal quietscht er nicht. Behutsam schiebe ich die Tür einen Spalt weit auf.
Die Kabine sieht wenigstens noch genau gleich aus wie vorhin. Das Gegenteil hätte mich momentan auch nicht besonders überrascht.
Das Licht der Nachttischlampe erhellt die Kabine mäßig. Man kann alles erkennen, wenn auch nur vage.
Ich öffne die Tür weiter und traue mich erst jetzt, aufs Bett zu blicken, dorthin, wo die tote, blutbeschmierte… Frau liegt. Es ist eine Frau! Das hatte ich nicht realisiert. In meiner Wahrnehmung, vorhin, als ich aufwachte, war es weder eine Frau, noch ein Mann. Es war ein blutendes Monster. Jetzt aber erkenne ich es genau. Es ist eine Frau, mit klebrigen, zerzausten und pechschwarzen Haaren, die Augen weit aufgerissen, ebenso der Mund.
Angeekelt und zugleich ängstlich gehe ich Schritt für Schritt näher. Ich kann meinen Blick nicht von ihren starren Augen wenden.
Ich muss hier raus! Wie komme ich nur hier raus?
In diesem Moment entdecke ich die kleine goldene Kette, die sich über ihre Unterlippe wölbt. Darf das alles wahr sein? Sie glänzt mich an. Trotz des wenigen Lichts. Als ob sie ihre ganz eigene Lichtquelle hätte. Eine goldenen Kette, die aus dem Mund einer Frauenleiche in meiner Kabine hängt. Scheiße.
Ich gehe noch einen Schritt näher. Dann kann ich es erkennen. Direkt auf ihrer Zunge liegt, am anderen Ende der Kette befestigt, ein ebenso goldener Schlüssel.
Mein Hirn brennt wie Feuer, aber…
ich überwinde mich. Ich gehe noch einen Schritt näher heran, sodass meine Knie gegen den hölzernen Bettrahmen stoßen und strecke zögernd die Hand nach der Leiche aus. Und dann greife ich blitzschnell nach der Kette in ihrem Mund und springe im selben Augenblick einen Meter zurück, als ob mich die Tote noch packen, beißen oder sonst wie angreifen könnte.
Und im selben Moment fährt ein stechender Schmerz von unten durch meinen Körper. Auf einem Bein springend werfe mich mich rückwärts gegen die Kabinentür und hebe zitternd mein rechtes Bein. In meiner Fusssohle steckt eine circa drei Zentimeter lange Glasscherbe. Daneben noch zwei etwas kleinere. Scheiße. Ich verziehe das Gesicht vor Schmerz.
Und trotzdem, ich muss es erst einmal ignorieren. Bleibe auf einem Bein stehen. Ich kann nicht anders. Mein Herz schlägt bis in den Unterkiefer hinein und mein Atem stolpert.
Ich schaffe es kaum, meine verkrampfte Hand zu öffnen und mir den Schlüssel näher anzusehen. Aber ich tue es, blicke auf den goldnen Schlüssel hinab und kann es kaum glauben.
ZELLE 33
Zelle 33. Was soll das! Was soll das alles?!
Warum Zelle, verdammt? Warum denn Zelle?
Ich weiß nicht, was mich mehr schmerzt: Meine Fusssohle oder mein Hirn!
Mit spitzen Fingern ziehe ich mir die lange Scherbe aus dem Fuss, entferne dann die kleineren und bleibe angelehnt an die Tür stehen.
Allmählich beruhigt sich mein Puls wieder ein wenig, die Augen gewöhnen sich an das schwache Licht, und mein Organismus offenbar insgesamt an diese abgefahrene, absolut skurrile Situation.
Okay. Leiche, weibliche Leiche. Ein goldener Schlüssel; im Mund er Leiche. Zelle. Zelle 33.
Erneut donnert die See gegen die Bordwand. Zum ersten Mal nehme ich das Guckloch wahr, in dem sich gerade Gischtwasser sammelt und herumwirbelt wie in einer Waschmaschine. Die Kabine scheint sich im unteren Teil des Schiffes zu befinden. Sonst würden die Wellen das Porthole nicht erreichen.
Ein schmaler Schrank, kleiner Schreibtisch, ein Stuhl. Das wars. Auf dem Stuhl ein weißer Arbeitsoverall. Ich humple zu ihm und ziehe ihn an. Dann starre ich auf den Schlüssel, dann zur Tür, wieder auf den Schlüssel.
Ich humple zur Tür und schiebe den goldenen Schlüssel ins Schloss. Er passt ins Schloss. Aber ich traue mich nicht, ihn darin zu drehen. Warum sollte das funktionieren?
Und wenn sich damit tatsächlich die Tür öffnen lässt: Was werde ich da draußen vorfinden?
In meiner momentanen Verfassung kann ich mir fast alles vorstellen: Ein menschenleeres Schiff, das führungslos und unwiderruflich auf scharfe Klippen zutreibt und bald an ihnen zerschellen wird. Ein Schiff voller Zombies, voller Piraten, die mich entführt haben, …
Ich habe keine Ahnung und weiß auch nicht, ob ich es wirklich herausfinden will. Aber habe ich denn eine Wahl? Ich beiße mir auf die Lippen und kneife meine Augen zusammen und dann drehe ich den Schlüssel herum. Und …
Es funktioniert! Der Schlüssel lässt sich drehen. Das Schloss springt auf. Vorsichtig drehe ich an dem Türknauf und öffne die Tür einen kleinen Spalt weit. Ich lege meinen Kopf gegen den Türrahmen und linse mit einem Auge hinaus: Ein Gang, weitere Türen. Mehr lässt sich nicht erkennen.
Und jetzt? – Gibt kein zurück.
Ich öffne die Tür weiter und sofort fällt mir die Beschriftung an der Tür ins Auge.
Wie auf dem Schlüssel! Ich atme nochmals einmal ein und mache einen Schritt hinaus auf den Gang und nach links und blicke ummittelbar in ein Augenpaar und schreie auf.
»Aahh! Wer sind Sie?!«
»Captain Gunnar Jacobson«, antwortet der grauhaarige und bärtige Kerl. »Ich wollte gerade zu Ihnen, Herr Neff.«
»Neff? Herr Neff! – Das ist mein Name?«